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Alchemie 2.0: AGI als moderner Stein der Weisen – Fortschritt oder moderner Aberglaube?

Seit jeher strebt der Mensch danach, die Grenzen des Machbaren zu verschieben. In früheren Jahrhunderten versuchten Alchemisten, das Unmögliche zu erreichen: die Umwandlung von unedlen Metallen wie Blei in Gold oder die Entdeckung des Steins der Weisen – einer Substanz, die ewiges Leben und universelles Wissen versprach. Diese Forschung wirkt aus heutiger Sicht eher esoterisch, doch sie war Ausdruck eines tief verankerten menschlichen Drangs, die Kontrolle über grundlegende Prinzipien der Natur zu erlangen.

In gewisser Weise zeigt sich dieser Drang heute erneut in der Forschung rund um allgemeine künstliche Intelligenz, kurz AGI. Die Idee, eine Maschine zu schaffen, die nicht nur spezifische Aufgaben erledigt, sondern über ein umfassendes Verständnis der Welt verfügt, wirkt in ihrer Tragweite vergleichbar mit dem alchemistischen Ziel, Materie zu beherrschen.

Was ist AGI überhaupt?

AGI (Artificial General Intelligence) bezeichnet eine Form von künstlicher Intelligenz, die im Gegensatz zu heutiger „schwacher“ KI nicht nur in eng definierten Domänen agiert, sondern über ein breites, domänenübergreifendes Verständnis verfügt. Eine echte AGI wäre in der Lage, flexibel zu denken, kontextübergreifend zu lernen und sich an völlig neue Situationen anzupassen – also im Grunde das zu leisten, was menschliche Intelligenz auszeichnet. Es geht nicht nur um Mustererkennung oder Sprachverarbeitung, sondern um echtes Verstehen, Planen, Abstrahieren und Handeln.

Zwischen Magie und Methode

Beide Vorhaben – die Alchemie damals und die AGI heute – befinden sich an der Grenze dessen, was im jeweiligen Zeitalter als wissenschaftlich oder rational erfassbar gilt. Beide fordern bestehende Paradigmen heraus und werden nicht selten mit Skepsis betrachtet. Alchemie und AGI verbindet mehr, als man zunächst vermuten würde.

Heute versteht niemand wirklich, wie große Sprachmodelle (LLMs) „denken“ oder warum sie zu bestimmten Schlussfolgerungen kommen. Sie wirken oft wie Black Boxes – komplexe Systeme, die zwar beeindruckende Resultate liefern, aber intern kaum nachvollziehbar sind. Das erinnert stark an die Alchemisten, die ebenfalls mit Methoden arbeiteten, ohne zu verstehen, warum sie manchmal funktionierten – und oft eben nicht.

Die Alchemisten konnten nicht wissen, dass ein Element ein Stoff ist, der aus nur einer einzigen Atomsorte besteht und nicht weiter zerlegt werden kann, während eine Verbindung ein Stoff ist, der aus zwei oder mehr verschiedenen Elementen besteht. Sie hatten keine Vorstellung von Atomen, Elektronen oder Molekülen – ihre Theorie war ein Mythos, ihr Handwerk oft experimentell und halbblind. Ähnlich experimentiert man heute mit KI-Modellen, deren innere Logik aus Milliarden (Manchmal auch Trilliarden) von Parametern bestehen und trotz massivem Rechenaufwand nur bruchstückhaft durchschaubar ist.

Hoffnungsträger mit Legendenstatus

Beide Projekte sind eng mit utopischen Hoffnungen verknüpft. Während Alchemisten davon träumten, mit einem einzigen Durchbruch unermesslichen Reichtum oder Unsterblichkeit zu erlangen, verbindet man mit AGI oft die Vorstellung, dass sie alle unsere Probleme lösen könnte – von medizinischer Forschung bis hin zur Klimakrise. In beiden Fällen wird ein Versprechen formuliert, das weit über die technische Machbarkeit hinausreicht und sich tief in menschliche Wunschvorstellungen einschreibt.

Doch trotz dieser Parallelen gibt es grundlegende Unterschiede. Die Alchemie war stark spekulativ und nicht systematisch überprüfbar. Die AGI-Forschung hingegen basiert auf formalen Systemen, mathematischen Modellen und datengetriebenen Verfahren. Zwar ist auch sie mit Unsicherheiten und spekulativen Annahmen behaftet – vor allem in Bezug auf Bewusstsein, Intuition und Intentionalität –, doch sie bewegt sich in einem wissenschaftlich überprüfbaren Rahmen.

Ein weiterer Unterschied liegt in der Struktur der Wissensproduktion. Während Alchemie oft in geheimen Zirkeln praktiziert wurde und stark von individueller Interpretation geprägt war, ist die AGI-Forschung heute eingebettet in ein globales Netzwerk von Forschungsinstituten, Open-Source-Projekten und kollaborativer Entwicklung. Der Erkenntnisgewinn ist nicht mehr das Ergebnis individueller Inspiration im Verborgenen, sondern kollektiver, systematischer Arbeit.

Der Weg ist das Ziel

Trotzdem bleibt ein entscheidender Punkt bestehen: Weder die Alchemisten noch die heutigen AGI-Forscher wissen mit Sicherheit, ob sie ihr Ziel jemals erreichen werden oder ob es überhaupt erreichbar ist. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass sich aus der Alchemie zwar nie Gold herstellen ließ, aber sie den Weg für die moderne Chemie ebnete. Ebenso könnte die Suche nach AGI am Ende nicht in der Erschaffung einer „denkenden Maschine“ münden, aber dennoch technologische Fortschritte hervorbringen, die unsere Gesellschaft fundamental verändern.

Fazit

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass der Mensch offenbar nicht dazu fähig ist, sich mit den Grenzen des aktuell Machbaren abzufinden. Der Versuch, AGI zu erschaffen, ist weniger ein technisches Projekt als ein kultureller Ausdruck unserer Unruhe gegenüber dem Status quo. Er zeigt, dass wir das, was wir noch nicht verstehen, nicht als Limit akzeptieren wollen. Dieser Wille, das scheinbar Unmögliche zu versuchen – gegen alle Widerstände, Zweifel und Risiken – zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Und genau deshalb ist es nicht nur verständlich, sondern notwendig, dass wir weiter nach dem „Stein der Weisen“ der heutigen Zeit suchen – auch wenn er am Ende ganz anders aussieht, als wir ihn uns heute vorstellen.

Veröffentlicht in Allgemein